Schon seit Jahren beschäftige ich mich mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, weil ich es ungeheuer spannend finde zu erfahren, wie unser Gehirn funktioniert und vor allem, welche Konsequenzen das hat für unsere Art, die Welt wahrzunehmen und zu bewerten. Denn das wirkt sich ganz unmittelbar darauf aus, wie wir kommunizieren, lernen und uns verändern – das heißt, ich kann dieses Wissen auch ganz direkt für meine Arbeit im Coaching anwenden.
Neuroleadership: Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern wurde verfasst von Christian E. Elger, Professor für Epileptologie an der Uni Bonn und Experte für Neuroökonomie und Neuromarketing. Das Buch richtet sich in erster Linie an Führungskräfte, aber natürlich können Coachs und Trainer für ihre Arbeit auch sehr viel daraus mitnehmen.
Diese Rezension fiel mir schwer, weil ich trotz meiner Vorkenntnisse noch mal sehr viel neue Informationen erhielt und vor allem der Transfer in die Praxis für diverse Aha-Erlebnisse sorgte. Daher würde ich am liebsten all meine Erkenntnisse hier aufführen, aber das würde natürlich zu weit führen. Einige Einblicke möchte ich euch aber trotzdem geben und euch die Lektüre des Werks wirklich ans Herz legen. Wer mehr darüber wissen möchte, wie unser Gehirn „tickt“ und wie man diese Erkenntnisse für die eigene Arbeit und Führungspraxis nutzen kann, erhält hier zahlreiche wertvolle Impulse.
Das Buch ist ausgesprochen lesefreundlich aufgebaut mit einer Übersicht der Inhalte des jeweiligen Abschnitts, grafisch hervorgehobenen Kernsätzen und einer Kurzzusammenfassung am Ende jeden Kapitels. Außerdem zieht Elger immer wieder den Bogen zur Umsetzung in die Praxis und erläutert, was die dargelegten Erkenntnisse für den betrieblichen Alltag bedeuten.
Die Gliederung ist einleuchtend und klar: In Kap. 1 werden die Grundlagen gelegt – Was Führungskräfte über Neurowissenschaften wissen sollten. Im zweiten Kapitel werden die Basics der Gehirnfunktionen für Neuroleadership in der Praxis erläutert. Das dritte Kapitel widmet sich den vier wichtigsten Gehirnsystemen für die Führungspraxis. In Kap. 4, Frauen sind als Führungskräfte unverzichtbar, zeigt Elger, dass Frauen tatsächlich anders denken und inwiefern das für moderne Unternehmen ein Wettbewerbsvorteil sein kann. Kap. 5 setzt sich mit dem Multigenerationsunternehmen als Zukunftsmodell auseinander. Und im 6. Kapitel wird Neuroleadership in typischen Situationen des Führungsalltags diskutiert und konkret angewandt.
Für mich waren die ersten drei Kapitel besonders aufschlussreich, weil der Autor hier die wesentlichen Grundlagen sehr gut erläutert.
Zunächst räumt Elger mit einigen noch immer weit verbreiteten Annahmen auf, wie zum Beispiel, dass der Mensch überwiegend „vernünftig“ handelt. Wenn diese Einsicht endlich mal in den Vorstandsetagen einiger Unternehmen ankommen würde, sähe unsere Wirtschaft vermutlich anders aus …
In einer auch für Laien nachvollziehbaren Sprache stellt Elger sodann die wichtigsten Eigenschaften des Gehirns vor, insbesondere seine enorme Komplexität und seine Plastizität. Damit ist gemeint, dass bis ins hohe Alter, buchstäblich bis zum Lebensende, immer noch neue Nervenzellen gebildet werden. Das Gehirn kann sich bis zuletzt neu strukturieren, so dass wir stetig dazu lernen können. Ältere Menschen lernen lediglich anders als jüngere, weil sie weniger repetieren, sondern eher Verknüpfungen zu bereits Bekanntem schaffen. Neue Reize sind allerdings wichtig, damit das Gehirn auch fit bleibt. Wer sich also Input aus ganz unterschiedlichen Quellen holt und sich öfter mal aus den gewohnten Bahnen herausbewegt, tut seinem Gehirn Gutes. Und körperliche Bewegung tut ihr Übriges.
Daraus zieht Elger einen Schluss, den ich nur unterschreiben kann:
Die Bedeutung der Plastizität unseres Gehirns wird in unserer Gesellschaft, in der Wirtschaft, aber auch von den einzelnen Menschen immer noch nicht richtig erkannt. In der Regel werden wir stets auf das reduziert, was wir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelernt und erfahren haben, also auf das, was wir sind. Viel wichtiger ist es aber, den Blick darauf zu richten, was jeder Einzelne in Zukunft noch sein könnte, wenn er neue Erfahrungen macht und Neues lernt. Dieses Zukunftspotenzial wird einfach unterschätzt, weil man sich mit dem Status quo zufrieden gibt.
Eine weitere wichtige Aussage von Elger, die ich mir noch einmal klar machen durfte: Das Bewusstsein ist keine feste Größe, sondern eher eine Momentaufnahme. Zudem tritt je nach Kontext ein bestimmter Aspekt des Ich in den Vordergrund, und dies bestimmt ganz wesentlich unser Verhalten. Das bedeutet, selbst kleinste und alltägliche Dinge können unsere Einstellungen und Entscheidungen sowie unsere Handlungen blitzschnell und tiefgreifend ändern. Jeder Coach wird das bestätigen können – manchmal genügt eine winzige Intervention, die man vielleicht selbst gar nicht als bedeutsam angesehen hat, um beim Klienten umfassende Veränderungen zu bewirken.
Besonders aufschlussreich fand ich das dritte Kapitel. Hier stellt Elger das Belohnungssystem, das emotionale System, das Gedächtnissystem sowie das Entscheidungssystem vor. Man darf sich diees vier Systeme nicht als unabhängig voneinander agierende Einheiten vorstellen, sondern sie interagieren, sind miteinander verknüpft, und der Ausfall einer Einheit wirkt sich teils dramatisch auf die anderen Systeme aus.
Einige wichtige Erkenntnisse in Stichworten:
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Das Belohnungssystem honoriert Fairness und Vertrauen.
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Die zentrale Bedeutung der Emotionen liegt in der Organisation und Motivation des Verhaltens.
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Das Gedächtnis ähnelt einem Kaleidoskop: Erinnerungen werden ständig bearbeitet und neu bewertet.
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Die neuronale Architektur bestimmt das Selbst eines Menschen. Die Persönlichkeit kann sich aufgrund der neuronalen Plastizität bis zum Lebensende verändern.
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Für Entscheidungen ist der Kontrast zwischen Wahlmöglichkeiten wichtig.
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Anonymität fördert die Unehrlichkeit.
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Es gibt zwei unterschiedliche Normensysteme, die sich gegenseitig widersprechen: das System der sozialen Normen – Hilfsbereitschaft, Fairness, Rücksicht, sowie das System der Marktnormen – Lohn und Leistung, Vor- und Nachteile, Preise etc. Da dies oft nicht erkannt wird, führt dies in Unternehmen häufig zu Problemen.
Bei diesen kurzen Ausschnitten möchte ich es für heute belassen, werde aber sicher den ein oder anderen Aspekt in späteren Artikeln noch mal ausführlicher beleuchten.
Fazit: Absolut empfehlenswerte Lektüre mit vielen erhellenden Erkenntnissen der aktuellen Gehirnforschung sowie interessanten Ansätzen für den Transfer in die Praxis.
Liebe Heide,
ich tauche gerade aus einem Webinar von Cemal Osmanovic (smile2) auf, in dem die von Matthias Horx‘ vor einigen Jahren aufgestellten Zukunftsvisionen zum Thema „Lernen“ behandelt wurden, die wir rege auf dem heutigen Stand diskutierten. Die von Dir empfohlene Lektüre passt dazu wie die Faust aufs Auge. Ich bin schon neugierig auf dieses Buch, denn die Menschen entwickeln sich offensichtlich schneller als ihre gesellschaftlichen Institutionen!
Wie die gerade gegründeten „Bildungsstifter“ (u.a. Gerald Hüther, Hirnforscher) kam Horx zu dem Schluss, dass sich das Bildungssystem ändern muss, Lerninhalte selbst zu organisieren sind, Lernen zwischen verschiedenen Altersstufen Praxis und Experiment zugleich sein sollte, neben der Individualität die Kooperationsfähigkeit zu steigern ist …
Lebenslanges Lernen wird schon lange propagiert, doch werden in den meisten Unternehmen nach wie vor Menschen in Bewerbungsprozessen aufgrund ihrer Zertifikate oft ungeprüft vor einem Bewerbungsgespräch aussortiert … Für mich ist z.B. die ganze Diskussion um den „Facharbeitermangel“ ein Indiz für diesen Fehler im unternehmerischen Denken und Handeln.
Ich hoffe wie Du auf einen Transfer solcher Erkenntnisse wie die von Christian E. Elger in die unternehmerische Praxis.
Herzliche Grüße
Evelyn